- Erddruck
Erddruck. Das Erddruckproblem tritt bei den technischen Aufgaben der Berechnung von Stützmauern, von Gewölbe- und Bogenwiderlagern, von Speicherwänden (Silos) und Fundamenten auf.
Es wird statisch gefaßt als die Bestimmung des Gleichgewichts pulverförmiger schwerer Massen, die durch ihre Reibung in gewissem Maße zusammengehalten werden.
Die Aufgabe läßt ebenso wie die Reibungsaufgaben fester Körper unendlich viele Lösungen zu, von denen technisch am wichtigsten die Lösungen an den Grenzen des Gleichgewichtgebiets sind, also z.B. die Lösungen, die dem Zustand der gerade nachgebenden Stützmauer (aktiver E.), bzw. des gerade in den Erdboden eindringenden Widerlagers (passiver E.) entsprechen.
Der günstige Einfluß der Kohäsion des Erdreichs bei geringer Feuchtigkeit wird besser nicht berücksichtigt, dagegen ist die Verringerung des Reibungskoeffizienten bei etwa möglicher starker Durchnässung des Erdreichs zu beachten.
Die Natur des betrachteten körnigen Stoffes wird gekennzeichnet durch den sogenannten Reibungs- oder Böschungswinkel, hier ρ genannt.
Es darf nämlich die Gesamtspannung, die sich aus Druck- und Schubspannung zusammensetzt, an keinem Flächenelement den Reibungswinkel mit der Flächennormalen überschreiten. Hierfür ist z.B. erforderlich, daß eine freie Grenzfläche eines der Schwere unterliegenden Sandkörpers, den Reibungswinkel mit der Wagerechten nicht überschreitet. Eine Grenzfläche, die den Reibungswinkel gerade einschließt, heißt Böschung, und der Böschungswinkel ist also neben dem spezifischen Gewicht bezeichnend für den Reibungszusammenhang.
Die folgende Tabelle gibt Durchschnittswerte von Böschungswinkel ρ und spezifischem Gewicht γ für die häufigsten Stoffe:
Dammerde: ρ γ trocken 35–40° 1400 feucht 45° 1600 naß 27° 1800 Sand: trocken 30–35° 1580–1650 feucht 40° 1800 naß 25° 2000 Lehmboden: feucht 40–45° 1500 naß 20–25° 1900 Kies: trocken 35–40° 1800–1850 Gerölle: eckig 45° 1800 rund 30° 1800
Es soll hier die Erddrucktheorie nur soweit gebracht werden, als sie bisher zu unmittelbaren technischen Anwendungen geführt hat. Nicht die umfassenden Ansätze von F. Kötter, die die Erddruckaufgabe als eine Aufgabe der Variationsrechnung darstellen, sollen hier behandelt werden, auch nicht die Theorie der gekrümmten Gleitflächen von F. Kötter und H. Müller-Breslau, desgleichen nicht die Weiterführungen der Rankineschen Theorie des gleichmäßigen Grenzzustandes, wie sie von J. Boussinesq, St. Venaut, M. Lévy, E. Winkler, O. Mohr u.a. geleistet worden sind. (Siehe hierüber F. Kötters Referat oder des Verfassers Referat in der Enzykl. d. Math. Wiss.).
Die bisherigen technischen Anwendungen gehen entweder von dem Coulombschen Gedanken des günstigsten möglichen Gleichgewichts aller gradlinig begrenzten Erddruckprismen oder von der Rankineschen möglichen, im ganzen Bereich des Erdkörpers gleichmäßigen Lösung der Differentialgleichungen des Gleichgewichts aus, u. zw. scheint der augenblickliche Stand der ersteren Lösungsmethode den technischen Bedürfnissen am weitesten zu entsprechen.
Die beiden Methoden sollen im folgenden erläutert werden.
Die Coulombsche Theorie, bei beliebigem Gelände und für das ebene Problem, d.h. Wand- und Geländebegrenzung, diese in allen Ebenen parallel der Zeichenebene. Durch den Rauhigkeitsgrad der Wand sei der Winkel zwischen Wanddruck und Wandnormale φ gegeben. Man nimmt ihn zweckmäßig bei guter Entwässerung zu 2/3 des Böschungswinkels an (Abb. 337).
Der Coulombsche Gedankengang ist der folgende: Man muß mindestens verlangen, daß der Wanddruck so groß ist, daß alle Erdprismen, die durch die Wand, die Geländeoberfläche und einen beliebigen ebenen, durch den Mauerfuß gehenden Schnitt AB begrenzt sind, im Reibungsgleichgewicht gehalten werden. Denkt man sich für alle möglichen solcher Prismen den zugehörigen Wanddruck durch das Kräftedreieck: Eigengewicht des Prismas G, Gegendruck der Erde Q an der Schnittfläche unter dem Reibungswinkel zur Flächennormalen und Wanddruck E bestimmt, so erfüllt nur der größte so errechnete Erddruck E die Bedingung, nicht nur das zugehörige, sondern sämtliche Prismen im Gleichgewicht zu halten. Dagegen würde jeder kleinere aus einem andern Prisma berechnete E., wenn man ihn nun für alle Prismen zu gründe legte, an andern Prismen zu einer Überschreitung des Reibungswinkels der Kraft Q führen. Da dies nicht der Fall sein darf, so muß man das Prisma des größten E. als das maßgebende ansehen und annehmen, daß an den anderen Prismen der Grenzdruck Q zwar größer ist als vorher berechnet, dafür aber einen kleineren Winkel mit der Flächennormalen als den Reibungswinkel einschließt.
Dies ist die Begründung für den aktiven E., den eine Stützmauer mindestens auszuhalten hat. Der Gedankengang für den passiven E., den die Stützmauer höchstens ausüben darf, wenn das Erdreich nicht weggedrückt werden darf, ist ganz analog der folgende: (Abb. 338.)
Das ideelle Erdprisma wird durch die Reibung gehindert, nach oben herauszurutschen. Infolgedessen ist der Reibungswinkel ρ an der Schnittfläche, bzw. δ an der Wandfläche von der Flächennormalen aus nach der entgegengesetzten Seite aus abzutragen als vorher.
Von allen Prismen ist dann jenes das maßgebende, das den kleinsten E. liefert, weil der zu einem andern Prisma gehörige größere E. an dem maßgebenden Prisma den Gegendruck Q an der Gleitfläche aus dem Reibungswinkel heraustreten ließe.
Die z. T. nachstehend beschriebenen verschiedenen Methoden von Poncelet, Culman, Rebhann und Engesser verfolgen nun alle das Ziel, dieses maßgebende Prisma möglichst einfach zu ermitteln.
Die Grenzfläche dieses maßgebenden Prismas heißt Gleitfläche, weil von allen durch den Mauerfuß gehenden Ebenen an ihr allein der Reibungswinkel grade erreicht wird und bei einem Nachgeben der Mauer diese Gleitfläche das rutschende Gebiet von dem ruhenden im ersten Augenblick trennen wird.
Am allgemeinsten anwendbar sind die Methoden von Culman und Engesser, von denen hier nur die von Culman beschrieben werden möge. Sie sind beide bei beliebigen Geländebegrenzungen, Wandformen und Geländebelastungen anwendbar.
Culman benutzt die Beobachtung von Poncelet, daß das Kräftedreieck G Q E sich in den Winkel zwischen Böschung und Schnittfläche hineindrehen läßt.
Man konstruiert dann das zu einem Schnitt gehörige Kräftedreieck, indem man das Gewicht G des betreffenden Prismas auf der Böschungslinie vom Mauerfuß A aus aufträgt und an den Endpunkt B den Winkel anträgt, den der E. mit der Vertikalen einschließen soll. Die Länge dieses Winkelschenkels bis zum Schnittpunkt C mit dem zugehörigen Prismenschnitt gibt dann den zugehörigen aktiven, bzw. passiven E. (Abb. 339).
Führt man dies für mehrere Schnitte aus, so kann man durch die Endpunkte der Erddrücke eine Kurve legen und erhält in dem höchsten, bzw. tiefsten Punkt dieser Kurve den maßgebenden aktiven, bzw. passiven E. Stetige oder unstetige Geländebelastungen sind hier leicht durch Zurechnung zu den Eigengewichten G der Prismen zu berücksichtigen. Für den passiven E. ist die Böschungslinie von der Wagrechten aus nach unten abzutragen.
Ist die Geländefläche und die Geländebelastung so stetig, daß die Culmannsche Kurve mit stetiger Krümmung verläuft, d.h. daß der maßgebende E. als analytisches Maximum erscheint, so läßt sich die Aufgabe bequemer lösen, u. zw. mit Hilfe des Rebhannschen Satzes, der lautet:
Der Flächeninhalt der Fläche ABC zwischen Wand, Gleitfläche und Gelände ist gleich dem Inhalt des Dreiecks ACD zwischen Gleitfläche, Böschung und Parallelen zur sogenannten Stellungslinie (Abb. 340) durch den Geländepunkt der Gleitfläche. Die Stellungslinie ist die Linie, die mit der Böschung denselben Winkel einschließt, wie der Wanddruck mit der Vertikalen und gibt die Richtung der einen Seite des Ponceletschen um π/2 ∓ ρ zwischen Böschung und Gleitlinie gedrehten Kräftedreiecks an, wo das negative Vorzeichen zu dem aktiven, das positive zu dem passiven E. gehört.
Man gelangt zu diesem Satz, wenn man den maßgebenden Wert des Erddrucks E als analytisches Maximum berechnet. Ist nämlich das Gewicht eines Prismas mit Geländebelastung p gleich G, φ der Winkel der Gleitfläche mit der Wagrechten und ψ der Winkel des Erddrucks gegen die Vertikale, bzw. der Böschung gegen die Stellungslinie, so kann man aus dem Kräftedreieck ablesen (Abb. 340)
Das Verschwinden des Differentialquotienten von E ergibt dann
d G sin (φ ∓ ρ) sin (φ ∓ ρ + ψ) = – G d φ sin ψ
und mit
wo
erhält man:
und
Dabei ist in γ' die Geländebelastung p im Schnittpunkt mit der Gleitfläche zu setzen. Bei dem Winkel ψ zwischen E. und der Vertikalen ist zu berücksichtigen, daß beim aktiven E. der E. von der Wandvertikalen nach unten um den Rauhigkeitswinkel, beim passiven E. nach oben um den Rauhigkeitswinkel abgelenkt ist.
Dieser Rebhannsche Satz ist für beliebige Geländeform anwendbar und läßt sich auch für gebrochene Wandfläche verwenden, wenn man ihn von oben nach unten vorschreitend auf die einzelnen gradlinigen Stücke der Wand anwendet.
In einfachen Fällen kann man aus dem Rebhannschen Satz sofort die Größe des E. ablesen, z.B. bei senkrechter, vollkommen glatter Wand und wagerechtem, unbelastetem Gelände (Abb. 341). Hier folgt für den aktiven E. aus der Inhaltsgleichheit der Dreiecke ABC und ACD
d.h. die Gleitfläche halbiert den Winkel zwischen Böschung und Wand
und für den passiven E. (Abb. 342)
d.h. die Gleitfläche halbiert auch hier den Winkel zwischen der nach unten geneigten Böschung und der Wand
Für gleichmäßig belastetes ebenes Gelände und ebene Wandfläche läßt sich aus dem Rebhannschen Satz eine sehr bequeme Konstruktion des Erddrucks ableiten, die zuerst von Poncelet angegeben worden ist (Abb. 343)
Sie beruht auf der Beobachtung, daß die Spitze D des Rebhannschen Dreiecks als der Endpunkt des geometrischen Mittels der Strecken a und b gefunden wird. Man sieht leicht, daß dann tatsächlich die Dreiecke ABC und ACD flächengleich werden. Dieses geometrische Mittel wird gewöhnlich mit Hilfe eines Halbkreises über der größeren der beiden Strecken a und b konstruiert.
Der oben durchgeführte Coulombsche Gedankengang läßt sich im Prinzip auch bei nicht ebenen Problemen, also für die Berechnung der Wanddrücke in winklig zueinander stehenden Mauern anwenden. Man hat auch dann für eine Reihe von ebenflächigen Körpern zwischen Mauer und natürlicher Böschung die Gleichgewichtsbedingungen unter Berücksichtigung der Reibung zu erfüllen und muß dann dasjenige Prisma als das maßgebende betrachten, dessen zugehörige Wanddrücke auch bei den andern Prismen nur Gegendrücke innerhalb des Reibungswinkels hervorrufen.
Die Verteilung des Erddrucks längs der Wand von oben nach unten ist eine linear wachsende und deswegen liegt der Angriffspunkt der Resultierenden bei unbelastetem Gelände in 1/3 der Höhe der Mauer; bei belastetem Gelände kommt hierzu noch eine Zusatzkraft in der halben Mauerhöhe angreifend. Es folgt dies daraus, daß man jeden Punkt der Mauer als Mauerfuß ansehen darf, wenn man nur den E. auf die Wand von oben bis zu dem fraglichen Punkt ermitteln will und ferner daraus, daß der Wanddruck infolge des Erdgewichts als quadratische Funktion von h, infolge der Auflast als lineare Funktion von h erscheint (Gleichung des Rebhannschen Satzes). Dies wird gewöhnlich dargestellt, indem man den Wanddruck als Summe einer dreieckigen und einer rechteckigen Belastungsfläche aufträgt (Abb. 344).
Die Rankinesche Theorie. Die Rankinesche Theorie, soweit sie praktische Folgerungen gezeitigt hat, beschäftigt sich zuerst mit dem Grenzgleichgewicht im seitlich unbegrenzten schweren Erdkörper mit beliebig geneigter ebener Oberfläche, bei dem sich der Spannungszustand nur in der Richtung senkrecht zur Oberfläche, aber nicht in der Richtung parallel der Richtung der Oberfläche ändert und überträgt dann diesen Zustand auf den seitlich durch eine Wand begrenzten Körper (Abb. 345).
Es handelt sich also zunächst um einen Spannungszustand, der sich mit x nicht ändert, sondern nur mit der Tiefe y und bei dem jedes Volumenelement im Grenzzustande des Gleichsgewichts sich befindet. Sind σx und σy die Normalspannungen parallel den Axen τ die Schubspannung, so ist die Bedingung dafür, daß an einem Flächenelement der Reibungswinkel ρ grade erreicht ist:
Anderseits folgen aus den Gleichgewichtsbedingungen allein die Spannungen
σy = γ y cos α t = γ y sin α
wo γ das spezifische Gewicht des Erdkörpers.
Aus der oberen Gleichung läßt sich dann entnehmen
wo das obere Vorzeichen für den aktiven, das untere für den passiven E. gilt.
Die Hauptspannungsachsen bilden bekanntlich mit den ursprünglichen Achsen den Winkel φ, der durch die Gleichung gegeben ist.
und die Gleitflächen, an denen die resultierende Spannung den Reibungswinkel ρ mit der Normalen einschließt, halbieren den Winkel der Hauptachsen.
Aus dem Verhältnis, in dem σy und τ zueinander stehen, kann man sehen, daß auf Flächenelemente parallel der Oberfläche senkrechter Druck wirkt und daraus folgt sofort die in den obigen Resultaten auch enthaltene Tatsache, daß auf vertikale Flächenelemente der Druck parallel der Oberfläche sein muß.
Auf vertikale Wände ergibt sich nach Rankine also stets der Oberfläche paralleler Druck, unabhängig von der Beschaffenheit der Wand. Es gibt Fälle, wo die Coulombsche und die Rankinesche Theorie übereinstimmen, nämlich dann, wenn die Richtung des Erddrucks in beiden dieselbe ist.
Bei fallendem Gelände liefert die Rankinesche Theorie recht unwahrscheinliche Zustände, die eben von der manchmal unwahrscheinlichen Voraussetzung, daß das Vorhandensein der Mauer die Gleichförmigkeit des Zustandes nicht störe, herrühren.
Es möge noch erwähnt werden, daß St. Venant und Boussinesq Korrektionsverfahren ausgebildet haben, um die Rauhigkeitsbedingungen an der Wand zu erfüllen.
Die Erfahrung hat gezeigt, daß die nach dem Coulombschen Prinzip berechneten Stützmauern genügende Sicherheit besitzen, wenn man den Rauhigkeitsgrad der Wand vorsichtig, d.h. nicht zu groß einsetzt.
Auch die experimentellen Untersuchungen an Modellen scheinen der Coulombschen Theorie der grade nachgebenden Mauer nicht zu widersprechen.
Literatur: Fr. Kötter, Die Entwicklung der Lehre vom Erddruck. Jahresb. d. Deutsch. Math. Ver. 1893, 21, S. 77 ff. – Fr. Kötter, Die Bestimmung des Drucks an gekrümmten Gleitflächen, eine Aufgabe aus der Lehre vom Erddruck. Verhandl. d. Phys. Ges. zu Berlin. 1888, 7, Berlin. Ber. 1903; Hann. Zeitsch. 1908, 54, S. 55. – H. Müller-Breslau, Erddruck auf Stützmauern. Stuttgart 1906. – W. J. M. Rankine, On the stability of loose earth. Lond. Phil. Trans. 1857, 147; A manual of applied mechanics. London 1858 und spätere Auflagen. – H. Reißner, Theorie des Erddrucks. Encyklop. d. Math. Wiss. IV, 2, II, Heft 3. Leipzig. – Ch. A. Coulomb, Essai sur une application des règles de maximis et minimis etc. Paris, Mém. prés. par div. Sav. 1776, (1773), 7; Theorie des machines simples. Paris 1821, S. 318 ff. – J. V. Poncelet, Mém. sur la stabilité des revêtements et de leurs fondations. Mém. de l'officier du génie. 1840, 13. – C. Culmann, Die graph. Statik. Abschn. XIII, Theorie der Stütz- und Futtermauern. Zürich 1866. – O. Mohr, Abhandlungen aus dem Gebiet der techn. Mechanik. Berlin 1906, S. 220. – G. Rebhann, Theorie des Erddrucks und der Futtermauern, mit besonderer Berücksichtigung auf das Bauwesen. Wien 1875. – Fr. Engesser, Geometrische Erddrucktheorie. Ztschr. f. Bw. 1880, 30, S. 189. – E. Winkler, Neue Theorie des Erddrucks nebst einer Geschichte der Theorie des Erddrucks und der hierüber angestellten Versuche. Wien 1872. – J. J. Weyrauch, Theorie des Erddrucks auf Grund der neueren Anschauungen. Allgem. Bauz. 1881.
Reißner.
http://www.zeno.org/Roell-1912. 1912–1923.