Verwässerung

Verwässerung

Verwässerung des Anlagekapitals, Verdeutschung des in den Vereinigten Staaten gebildeten Ausdrucks: »watering the stock«, der ursprünglich bedeutete: Tränkung der Viehherden. Stock heißt sowohl Anlagekapital als auch ein Haufen, eine Herde von Vieh. Der Ausdruck soll zurückzuführen sein auf einen Gaunerstreich des berüchtigten amerikanischen Spekulanten Daniel Drew. Dieser, ursprünglich Viehhändler, gab einer Herde, die er im Westen der Vereinigten Staaten zusammengekauft hatte und in New York verkaufen wollte, kurz vor Ankunft des Käufers eine Menge Salz zu fressen, ließ sie einen Tag lang dursten und gab ihnen dann große Mengen Wasser zu saufen. Die Tiere schwollen infolgedessen stark an, sahen rund und fett aus, und Drew, der sie nach Gewicht verkaufte, machte ein glänzendes Geschäft, während der Käufer stark übervorteilt wurde (vgl. White, The book of Daniel Drew, 1910, S. 42 ff.). Der Streich machte viel Aufsehen und der Ausdruck soll in die Börsensprache und später in die Geschäftsprache übernommen sein. Ob dies zutrifft, läßt sich wohl nicht genau nachweisen. Jetzt bedeutet er eine künstliche Vermehrung des Anlagekapitals einer Eisenbahn durch Herausgabe solcher (fiktiver) Werte, meist Aktien, unter Umständen auch Obligationen, für die die Empfänger keinen oder nur geringen Entgelt gegeben haben. Derartige geschäftliche Maßnahmen kommen in den verschiedensten Formen vor, die zum Teil unbedenklich, zum größeren Teil aber, insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika, sehr anfechtbar sind und zu den lebhaftesten Beschwerden geführt haben. Eine unbedenkliche, in allen Ländern übliche Form der Verwässerung ist die Herausgabe von Aktien und Obligationen unter dem Nennwert, vorausgesetzt, daß dies allgemein bekannt gemacht wird. Bedenklich ist schon die Zahlung zu hoher Preise für den Bau der Eisenbahn an die Unternehmer, die dann oft dieselben Personen sind wie die Eisenbahndirektoren. Hierdurch werden die nicht an dem Bau beteiligten Aktionäre geschädigt. Die regelmäßige Form der Verwässerung war ursprünglich die Ausgabe von sog. Kapitalsdividenden. Einige der älteren amerikanischen Eisenbahngesetze enthielten die Bestimmung, daß, wenn eine Eisenbahn mehr als 10% verdiente, sie ihre Tarife herabzusetzen verpflichtet sei. Um sich dieser Verpflichtung zu entziehen, erhöhten dann die Eisenbahnen unter irgend einem Vorwand ihr Aktienkapital durch Herausgabe neuer Aktien, meist zu Vorzugskursen für die alten Aktionäre, oder sie gaben auch neue Obligationen aus, die den Aktionären unentgeltlich – als Prämien – oder gegen geringes Entgelt neben der Dividende zur Verfügung gestellt wurden. Ein solches Verfahren ist schon aus dem Grund verwerflich, weil es eine Umgehung der Gesetze in sich schließt. Es schädigt die Interessen der Allgemeinheit, weil die Eisenbahnen auf diese Weise die Beibehaltung höherer Tarife ermöglichen, als sie ihnen bei Erteilung der Konzession gestattet werden sollten. Einzelne Eisenbahnen gingen noch einen Schritt weiter. Sie gaben zu betrügerischen Zwecken neue Aktien oder Obligationen aus, die dann auf den Markt geworfen wurden und mit deren Erlös sich die leitenden Personen bereicherten. Der New York Lake Erie and Western-Bahn wird vorgeworfen, daß sie in dieser Weise unter dem Regiment von Fisk und Gould in den Jahren 1868–1872 ihr Anlagekapital von 17 auf 78 Mill. Dollar vermehrt hat. In solchen Fällen reichen die Einnahmen der Bahnen bald nicht mehr aus, Dividenden, ja die Obligationenzinsen zu zahlen, die Bahn verfällt in Konkurs, wird von den eingeweihten Personen zu einem billigeren Preis angekauft und Aktionäre und Gläubiger verlieren ihren Besitz.

Das Anlagekapital zahlreicher amerikanischer Bahnen ist von ihrer Gründung an in der Weise verwässert, daß der gesamte oder wenigstens der überwiegende Teil des Aktienkapitals den Gründern oder anderen Beteiligten unentgeltlich oder gegen ganz geringe Einzahlung überwiesen ist. Gleichzeitig mit den Aktien wurden dann Obligationen – oft auch unter dem Nennwert – herausgegeben und mit deren Erlös die Bahn gebaut. Beispielsweise ist auf das gesamte Aktienkapital der Northern Pacific-Eisenbahn von 100 Mill. Dollar ursprünglich, wenn überhaupt etwas, dann höchstens 1% eingezahlt worden. Eine derartige Finanzierung eines Eisenbahnunternehmens hat nicht selten zur Folge gehabt daß die Eisenbahnen, die darauf angewiesen waren, aus ihren Erträgen unter allen Umständen die Zinsen des eigentlichen Anlagekapitals, der Obligationen, herauszuwirtschaften dieser Verpflichtung in den ersten Jahren nicht nachkommen konnten und in Konkurs verfielen.

Die V. ist nicht nur bedenklich, weil sie zur Bildung unsolider, auf schwachen Füßen stehender Unternehmungen führt und weil das Publikum zu irrigen Vorstellungen über den eigentlichen Wert des Unternehmens verleitet wird, sie hat auch wirtschaftlich vielfach üble Folgen gehabt: die Erhebung übermäßiger Tarife, leichteres Zustandekommen monopolistischer Vereinigungen, gegen die dann häufig, ohne daß in der Sache ein Grund vorlag, Konkurrenzunternehmungen gebaut und Tarifkriege geführt wurden. Verschiedene bis in die neueste Zeit fortgesetzte Versuche, die Verwässerung durch Erlaß neuer gesetzlicher Bestimmungen zu verhindern oder den Teil des Anlagekapitals zu ermitteln, der als Wasser (water) zu gelten hat, sind bisher ohne nachhaltigen Erfolg geblieben. Es wird ziemlich allgemein angenommen, daß etwa der dritte Teil des Anlagekapitals der Eisenbahnen der Vereinigten Staaten Wasser ist. Ähnliche Mißbräuche kommen allerdings auch in anderen Ländern und bei anderen Unternehmungen vor.

Literatur: van Oss, American Railroads, as Investments (1893), S. 135 ff. – Greene, Railroad Stock-Watering in Political Science Quarterly, Bd. VI (1891), S. 474 ff.

v. der Leyen.


http://www.zeno.org/Roell-1912. 1912–1923.

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