- Belgische Nebenbahnen
Belgische Nebenbahnen (chemins de fer vicinaux). Schon frühzeitig wurde in Belgien das Bedürfnis empfunden, das bestehende Hauptbahnnetz durch Anlage von Seiten- und Verbindungslinien zu dem Zweck auszugestalten, um Gegenden für den Verkehr zu erschließen, in die sich die Hauptbahnen mit Rücksicht auf die hohen Anlage- und Betriebskosten nicht zu erstrecken vermochten.
Man war deshalb darauf bedacht, neben dem Hauptbahnnetz ein zweites Bahnnetz zu schaffen, das in die ländlichen Bezirke eindringen und die vielfachen lokalen Verkehrsbedürfnisse befriedigen sollte, die in diesen Gebieten mehr und mehr hervortraten. Dies war das Ziel des Gesetzes vom 9. Juli 1875, dessen Veröffentlichung in dem Augenblick stattfand, als die Hauptbahnen eine Ausdehnung von 3441 km erreicht hatten.
Dieses Gesetz, das die Überschrift trug: »Gesetz über die Kleinbahnen«, bezog sich auch auf die Nebenbahnen, wie dies aus den Motiven zu dem Gesetz und dem Ausschußbericht deutlich hervorgeht. Es beschränkte sich nicht darauf, wie sein Name anzudeuten scheint, die Konzessionen für Kleinbahnen in den Städten zu regeln, sondern hatte auch den Zweck, das Eisenbahnwesen in noch nicht aufgeschlossenen Gegenden zu entwickeln und überall für das Hauptbahnnetz neue Zufuhrlinien zu schaffen. Man gewahrte jedoch sehr bald, daß das Gesetz, das insbesondere die Zulässigkeit der Anlage des Bahnkörpers der Straßenebene, unmittelbar neben der Landstraße aussprach, zwar in hohem Grade die Entwicklung der städtischen Straßenbahnen, nicht aber die der Neben- und Kleinbahnen förderte. Die ersteren, die städtischen Straßenbahnen, die in dichtbevölkerten Verkehrsmittelpunkten angelegt werden, werfen gewöhnlich einen ausreichenden Ertrag ab, und der private Unternehmungsgeist zögert deshalb nicht, Geld in solchen Bahnen anzulegen; die Nebenbahnen dagegen, die die städtischen Bezirke verlassen, um in die Landbezirke einzudringen, wo die Bevölkerung weniger dicht, Handel und Gewerbe, die Hauptträger des Verkehrs, weniger bedeutend sind, bringen im allgemeinen nur bescheidene Einkünfte und haben für Privatgesellschaften wenig Verlockendes.
Es war deshalb erklärlich, daß, während die städtischen Straßenbahnen einen bedeutenden Aufschwung nahmen, das Gesetz vom Jahre 1875 auf dem Gebiet der Nebenbahnen keine oder doch fast keine Erfolge aufwies. Eine einzige Eisenbahnlinie der letztgenannten Art (von Taviers nach Embresin 9∙5 km) wurde in der Zeit zwischen dem Erlaß des Gesetzes vom Jahre 1875 und der Einbringung der Gesetze von den Jahren 1884 und 1885 über die Nebenbahnen angelegt.
Mit Rücksicht hierauf wurde am 28. Januar 1881 vom Ministerium eine Kommission mit dem Auftrag betraut, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um das Land mit Neben- und Kleinbahnen auszustatten. Diese Kommission wählte für die in Betracht kommenden Bahnen die Bezeichnung »Chemins de fer vicinaux«, die seitdem in den gewöhnlichen Sprachgebrauch übergegangen ist.
Bald nach Zusammentritt der Kommission hatte sich diese mit einer Schrift zweier ihrer Mitglieder (Bischoffsheim und Wellens) zu befassen. Der Titel lautete: Institution d'une société nationale des chemins de fer vicinaux (Errichtung einer nationalen Gesellschaft für Neben- und Kleinbahnen). Der Schrift waren Entwürfe für die Satzungen der zu gründenden Gesellschaft und für eine Gesetzesvorlage beigefügt. Diese Materialien bildeten tatsächlich die Grundlage der Verhandlungen der Kommission und enthalten die wesentlichen Grundzüge der Organisation, die Gegenstand der Gesetze vom Jahre 1884 und 1885 über die Neben- und Kleinbahnen wurde.
Die Verfasser der Schrift gingen davon aus, daß man dem privaten Unternehmungsgeist die Schaffung eines Nebenbahnnetzes durch Gewährung vereinzelter Konzessionen, die keinen Zusammenhang miteinander haben, nicht überlassen dürfe. Der private Unternehmungsgeist würde sich darauf beschränken, sehr gute Linien auszuführen oder mit den erlangten Konzessionen spekulieren und sie mit Nutzen veräußern; auch würde er weniger darum besorgt sein, der Öffentlichkeit zu dienen, als die aufgewandten Kapitalien zu verzinsen.
Man müsse, um das beabsichtigte Ziel zu erreichen, durch den Gesetzgeber an die Staatsregierung herantreten, ohne jedoch die etwaige Mitwirkung von Privatpersonen auszuschließen; man müsse in diesem großen Werke zur Förderung der nationalen Wohlfahrt die drei großen Elemente des Gemeinwesens, d. s. die Gemeinden, die Provinzen und der Staat, miteinander vereinigen.
Die Ausführungen der besprochenen Schrift gipfeln in der Ergänzung des Gesetzes vom 9. Juli 1875 durch Errichtung einer nationalen Gesellschaft für Neben- und Kleinbahnen, wodurch den Gemeinden ermöglicht werden sollte, unter den für sie günstigsten Bedingungen, aus den Vorteilen, die das Gesetz ihnen gewährt, Nutzen zu ziehen und auf diese Weise derartige Eisenbahnen zur schnellen Entwicklung zu bringen, die bestimmt sind, solche Landesteile mit dem Staatseisenbahnnetz in Verbindung zu setzen, die sonst vielleicht noch lange Zeit davon getrennt bleiben würden.
Der Broschüre waren ein Satzungsentwurf für die zu gründende »Compagnie nationale des chemins de fer vicinaux« und der Entwurf einer Gesetzesvorlage beigefügt; durch diese sollte die Regierung ermächtigt werden:
1. die Satzungen zu genehmigen,
2. für die Verzinsung und Tilgung der von der Gesellschaft auszugebenden Obligationen die Bürgschaft zu übernehmen.
Die Kommission erörterte eingehendst alle einschlägigen Fragen. Sie kam zu folgenden Ergebnissen:
1. Kein sozialer Machtfaktor darf von vornherein davon ausgeschlossen werden, an der Entwicklung der Nebenbahnen in weitestem Umfange mitzuarbeiten.
2. Eine Gemeinschaft zwischen dem Staat, den Provinzen und den Gemeinden, wie sie in einer Schrift mit dem Titel: »Institution d'une société nationale des chemins de fer vicinaux« entwickelt wird, kann die Zusammenschließung jener Machtfaktoren ermöglichen, um das gewünschte Ergebnis, wenigstens teilweise, zu erreichen.
3. Der Staat muß bestrebt sein, die Hauptbahnlinien vor dem Wettbewerb zu bewahren, indem er nur Nebenbahnen genehmigt, die mit jenen nicht in Wettbewerb treten können.
Demgemäß soll bei der Schaffung eines allgemeinen Planes für die in Belgien anzulegenden Nebenbahnen der Grundsatz maßgebend sein, daß die Nebenbahnen für die Hauptbahnen Zufuhrlinien und nicht Wettbewerbslinien zu bilden haben.
Für den Fall, daß dieser Wettbewerb dennoch in die Erscheinung treten sollte, muß der Staat stets gerüstet sein, ihn wirksam zu bekämpfen. Die Waffen dazu müssen in dem Gesetz zu finden sein.
Eines der Kampfmittel, die in den Händen des Staates verbleiben müssen, wäre das Recht, die Herabsetzung von Tarifen zu verhüten und je nach Bedarf Tariferhöhungen vorzuschreiben.
Dieser Wettbewerb kann in Wirklichkeit nur da eintreten, wo eine Nebenbahnlinie (sei es, daß sie zusammenhängend konzessioniert worden ist oder aus verschiedenen, einzeln konzessionierten Teilen gebildet wird) zwei Ortschaften miteinander verbindet, die schon von Stationen der Hauptbahnlinien bedient werden.
4. Es liegt keine Veranlassung vor, ein einheitliches Maß für die Spurweite und die Betriebsmittel für alle Nebenbahnen festzulegen; die einen können Vollspur, die anderen Schmalspur bekommen, je nach der Verschiedenheit der Bevölkerung, nach dem Zustand der Verkehrswege und der Aussicht auf Verkehrsentwicklung u.s.w.
5. Es besteht keine Veranlassung, von vornherein einheitliche Tarifsätze für den Verkehr auf Linien derselben Gattung festzustellen.
6. Es ist kein Grund vorhanden, Betriebsbezirke zu bilden und vorzuschreiben, wie weit die Verwaltung eines Bezirkes ihre Tätigkeit erstrecken darf.
7. Es ist zweckmäßig, den Gesellschaften, die Nebenbahnen anlegen, Rückkaufsbedingungen aufzuerlegen.
8. Gesetzgeberische Maßnahmen sind über die Polizei auf Nebenbahnen zu treffen.
Die versammelte Kommission drückte den Wunsch aus, die Regierung möge das Erforderliche einleiten, um in kürzester Frist die Anlage von Nebenbahnen, deren Zweckmäßigkeit erkannt ist, zu bewirken.
Die Kommission beendigte ihre Arbeiten am 6. April 1881, und etwa ein Jahr später (am 22. Mai 1882) legte der Finanzminister der Kammer einen Gesetzentwurf, betreffend die Errichtung einer nationalen Gesellschaft für Nebenbahnen, vor. Aus dieser Vorlage entstand das Gesetz vom 28. Mai 1884, an dessen Stelle bald das Gesetz vom 24. Juni 1885 getreten ist, das sich von dem ersteren nur in wenigen Punkten unterscheidet. Die Änderungen lassen die Grundzüge der neuen Organisation, wie sie in dem Gesetz von 1884 vorgesehen sind, unberührt.
Dieses Gesetz stellt folgende Grundsätze auf:
1. Die Anlage der Nebenbahnen wird einem einheitlichen Unternehmen anvertraut: der »Société nationale des chemins de fer vicinaux«. Diese wird von gewissen Steuern und Abgaben befreit und außerdem wird ihr ein Monopol gewährt. Die Regierung kann jedoch Konzessionen auch an Dritte vergeben, wenn die Société nationale nicht innerhalb Jahresfrist darum eingekommen ist und ihren Entwurf nicht in der vorgeschriebenen Frist fertiggestellt hat. Die Satzungen der neuen Gesellschaft sind durch das Gesetz festgelegt; sie bilden einen wesentlichen Teil des Gesetzes und können nur im Wege der Gesetzgebung geändert werden.
2. Die der Société nationale verliehenen Konzessionen sind von unbestimmter Dauer, wie die Gesellschaft selbst; die an andere verliehenen Konzessionen dürfen eine Dauer von 90 Jahren nicht überschreiten. Der Staat kann jederzeit die Konzessionen zu den in der Konzessionsurkunde festgesetzten Bedingungen zurückkaufen.
3. Die Société nationale steht unter der Aufsicht der Regierung, die das Recht besitzt:
a) die Tarife zu genehmigen und jederzeit deren Erhöhung zu verlangen;
b) die Ausführung von Maßnahmen zu untersagen, die dem Gesetz, den Satzungen oder den Staatsinteressen zuwiderlaufen;
c) für die Nebenbahnen polizeiliche Vorschriften zu erlassen und im öffentlichen Interesse gewisse Beförderungen ohne Entgelt zu verlangen.
4. Das Kapital wird beschafft durch die Übernahme von Aktien durch den Staat, die Provinzen und die Gemeinden.
Dies ist einer der eigentümlichsten und beachtenswertesten Punkte der Organisation. Früher waren alle Eisenbahnen entweder unmittelbar vom Staate oder von Privatgesellschaften gebaut worden, aber ohne eine finanzielle Mitwirkung der Provinzen und der Gemeinden. Man beschritt demnach einen ganz neuen Weg und war gezwungen, die beschließenden Körperschaften der Gemeinden und der Provinzen mit diesem bis dahin unbekannten Gedanken einer Beteiligung an einem Unternehmen von ganz besonderem Charakter vertraut zu machen, das zwar von öffentlichem Interesse ist, aber auch etwas von dem Charakter eines industriellen Unternehmens mit Risiko und Ungewißheiten aufweist. Es wurde hierbei eine Art der Finanzierung gewählt, die es dem Staate, den Provinzen und Gemeinden ermöglicht, eine finanzielle Beteiligung zu übernehmen, ohne daß sie bares Geld auszulegen brauchen. Sie verpflichten sich nur, auf die Dauer von 90 Jahren für die Verzinsung und Tilgung der erforderlichen Beträge aufzukommen, sofern das Erträgnis der Bahn hierfür nicht ausreicht. Im anderen Falle erhält sie den Mehrbetrag. Nach Prüfung des Geldmarktes wurde der Zinsfuß für die Jahresrenten auf 31/2% festgesetzt. Dieser Zinssatz ändert sich nur, wenn sich der Geldmarkt für die Unterbringung der Obligationen der Société nationale schwieriger oder weniger günstig gestaltet. (Die Société nationale ist im Jahre 1908 gezwungen worden, infolge des Sinkens der Staatsrente den Zinsfuß für die Jahresrente auf 3∙65% zu erhöhen.)
Der Staat begann damit, sich mit einem Viertel zu beteiligen. Mit Rücksicht auf die geringe Belastung, die hieraus dem Staate erwuchs, entschied der damalige Finanzminister im Jahre 1896, daß in Zukunft die Beteiligung des Staates für alle Nebenbahnlinien die Hälfte des erforderlichen Kapitals betragen solle. Das Gesetz verbietet der Regierung, über die Hälfte hinauszugehen. Man wollte, daß bei jedem Unternehmen dieser Art das Interesse der Gemeinden und Provinzen mindestens 50% betrage.
Von den neun belgischen Provinzen haben fünf ihre Beteiligung auf ein Drittel festgesetzt, nämlich Antwerpen, Lüttich, Luxemburg, Limburg und Namur. Die vier anderen Provinzen, Brabant, der Hennegau und die beiden Flandern haben ihre Beteiligung auf ein Viertel beschränkt. Unter diesen Umständen bleibt für die Gemeinden nur ein Sechstel oder ein Viertel, je nachdem sie zu den ersteren oder den letzteren Provinzen gehören. Die Gesamtheit oder die Gruppe der Gemeinden, die an der betreffenden Linie ein Interesse haben, hat dieses Viertel oder Sechstel zu übernehmen. Über die Verteilung der so bestimmten Summe unter den Gemeinden enthält das Gesetz keine Bestimmung.
Bei den ersten Fällen der Gesetzanwendung wählte man als Grundlage für die Beteiligung der Gemeinden einen doppelten Maßstab, nämlich die Bevölkerungsziffer einer Gemeinde und die Länge der Strecke auf ihrem Gebiet. Jeder dieser Faktoren ergibt eine Zahl, und die Durchschnittssumme ist für die Beteiligung der Gemeinde maßgebend.
Dieses System wird von den Interessenten fast allgemein angewandt, die sich übrigens untereinander wegen einer Änderung der aus einer solchen Berechnung sich ergebenden Summe verständigen können, da es der Société nationale genügt, wenn die Gesamtheit der in Betracht kommenden Gemeinden den Teil des Kapitals aufbringt, der auf sie entfällt. Auch Privatpersonen können zur Zeichnung von Aktien zugelassen werden, u. zw. verringert sich in diesem Falle der Anteil der Gemeinden verhältnismäßig. Nur können Privatpersonen vom Rentensystem keinen Gebrauch machen, sie müssen vielmehr ihren Anteil sofort einzahlen. Ferner kann die Beteiligung von Privatpersonen an einer bestimmten Linie ein Drittel des betreffenden Kapitals nicht übersteigen.
5. Nachdem das für eine Linie erforderliche Kapital vollständig gezeichnet worden ist, gibt die Société nationale Obligationen aus, für die der Staat Dritten gegenüber Bürgschaft zu leisten berechtigt ist, u. zw. auf Grundlage der von den Gemeinden, den Provinzen und dem Staate gewährleisteten Renten.
6. Das Gesellschaftskapital ist in ebenso viele Serien Aktien eingeteilt, als es konzessionierte Linien gibt. Jede Serie hat Anspruch auf den Gewinn der sie betreffenden Linie. Eine Gemeinde, die sich an einer bestimmten Bahn beteiligt, nimmt dagegen an den Ergebnissen anderer Bahnen nicht teil.
7. An der Spitze der Gesellschaft stehen ein Verwaltungsrat, der sich aus einem Präsidenten und sechs Mitgliedern zusammensetzt, und der Generaldirektor. Der Verwaltungsrat besitzt die weitestgehenden Befugnisse. Die Regierung ernennt den Präsidenten und drei Mitglieder des Verwaltungsrates; die drei anderen Mitglieder werden von der jährlich einmal zusammentretenden Generalversammlung der Aktionäre ernannt.
Der Präsident hat die Befugnis, die Ausführung der Beschlüsse des Verwaltungsrates auszusetzen, wenn sie ihm dem Gesetz, den Satzungen oder den Staatsinteressen zuwiderzulaufen scheinen. Die Regierung hat innerhalb 14 Tage endgültig darüber zu befinden.
Der Generaldirektor wird vom König ernannt.
Es ist ein Aufsichtsrat vorgesehen, der aus neun von der Generalversammlung gewählten Mitgliedern besteht. Auf Vorschlag des Verwaltungsrates hat die Generalversammlung sich damit einverstanden erklärt, als Mitglieder des Aufsichtsrates die ständigen Vertreter der neun Provinzen zu ernennen.
8. Jede Bahn besitzt für sich ein Ausgabenkonto für den Bau und Betrieb und ist an den Generalunkosten der Gesellschaft nach Maßgabe ihrer Roheinnahmen beteiligt.
Die Gewinnverteilung erfolgt zunächst in der Ausschüttung einer ersten Dividende, die dem festgesetzten Zinsfuß der gezeichneten Rente entspricht; nach Abzug der satzungsmäßigen Gewinnanteile dient der Überschuß zu einem Viertel für einen bei einer jeden Bahn bestehenden Erneuerungsfonds, 3/8 kommen einem Reservefonds zu gute, die verbleibenden 3/8 werden für eine weitere Dividende verwandt.
Der Reservefonds ist das finanzielle Bindeglied zwischen den verschiedenen Bahnunternehmungen. Die guten Linien, deren Erträgnisse die Verteilung einer Dividende gestatten, die höher ist, als der Zinsfuß der Rente, decken die etwaigen Betriebsverluste der schlechten Linien.
9. Die Generalversammlung besteht aus den Privataktionären und den Behörden, in der jede Provinz und jede Gemeinde durch einen einzigen Beauftragten vertreten wird, der über so viele Stimmen verfügt, als sein Auftraggeber Aktien besitzt.
Die Gründung der Société nationale erfolgte am 15. Juni 1885. Vom 15. September an wurden vom Minister der Landwirtschaft, der Industrie und der öffentlichen Arbeiten sowie von der Société nationale Rundschreiben an die Provinzial- und Kommunalbehörden des Landes versandt, desgleichen eine Vorschrift für Einreichung der Gesuche, betreffend die Anlage von Nebenbahnen, Muster für die von den Gemeinden zu fassenden Beschlüsse wegen Beantragung der Prüfung einer Linie, wegen der zu übernehmenden Kapitalbeteiligung u.s.w.
Ein königlicher Erlaß enthielt die Bedingungen, unter denen der Staat Dritten gegenüber die Bürgschaft für die Obligationen der Société nationale übernimmt. Auch genehmigte die Regierung Bestimmungen über die der Société nationale zu erteilenden Konzessionen.
Die beiden ersten Konzessionen (Ostende-Nieuport und Antwerpen-Hoogstraeten) wurden am 27. März 1886 verliehen. Diese Linien wurden am 15. Juli und am 15. August 1885 dem Betrieb übergeben, mithin noch bevor die königlichen Erlässe wegen der Konzessionierung erschienen.
Die nachstehende Tabelle gibt ein Bild der Entwicklung des Nebenbahnnetzes nach der Konzessionierung und Betriebseröffnung der einzelnen Linien.
Im Bau befinden sich 373 km, in Bauvorbereitung 323 km.
Die Nebenbahnlinien werden zum größten Teil mit Dampf betrieben. Die Einführung des elektrischen Betriebs an Stelle des Dampfbetriebs zur Bewältigung eines starken Personenverkehres fand zuerst im Jahre 1894 auf der 11∙55 km, jetzt 12∙7 km langen Strecke von Brüssel nach Petite-Espinette statt. Das zur Verwendung gelangte System ist das der oberirdischen Zuleitung mit dem Zuleitungsdraht über der Mitte des Gleises.
Im Jahre 1896 wurden die Nebenbahnen du Centre (La Louvière) und der Umgebung von Charleroi für den elektrischen Betrieb eingerichtet. Auch dort vermehrten sich die Einnahmen infolge Beseitigung des Dampfbetriebes erheblich. Darauf erfolgte die Elektrifizierung der Bahnen von Lüttich und von Borinage. Dermalen stehen 18 Linien in der Länge von etwa 250 km in elektrischem Betrieb.
Anfangs wurde jedes zu elektrifizierende Bahnnetz mit einer besonderen Zentrale für die Stromerzeugung ausgerüstet, in den letzten Jahren sind große Zentralen für die Erzeugung von elektrischer Kraft unter sehr günstigen Bedingungen entstanden, u.zw. sowohl für öffentliche und private Beleuchtung als auch für Kraftübertragung. Die Société nationale erachtete es demnach für vorteilhafter, den Strom von diesen Zentralen zu beziehen.
Mit benzo-elektrischen Motorwagen werden zurzeit Versuche vorgenommen.
Der Betriebsmittelpark der Nebenbahnen umfaßte am Schlüsse des Jahres 1910:
a) für den Dampfbetrieb:
Lokomotiven 678 Stück Personenwagen 1738 Stück Gepäck- und Güterwagen 6912 Stück
b) für den elektrischen Betrieb:
Motorwagen 379 Stück Benzo-elektrische Motorwagen 2 Stück Anhängewagen 351 Stück Gepäck und Güterwagen 37 Stück
Wert des gesamten Rollmaterials 52,613.110 Francs.
Die Roheinnahmen des ganzen Nebenbahnnetzes haben sich entwickelt, wie folgt:
Im Jahre 1910 betrugen die Gesamtausgaben 16,264.534 Fr., die Betriebsausgaben 14,431.341 Fr., der Betriebskoeffizient 71∙47%.
Das Hauptbahnnetz hat in etwa 75 Jahren eine Länge von 4700 km erreicht; das Netz der Neben- und Kleinbahnen, das kaum ein Vierteljahrhundert besteht, umfaßt unter Hinzurechnung der Nebenbahnlinien, die nicht der Société nationale, sondern Dritten konzessioniert wurden, eine Länge von rund 3800 km.
Das für die konzessionierten Linien aufgewandte Kapital beläuft sich auf 302,790.000 Fr. (hiervon tatsächlich verausgabt 253,185.383 Fr.). Davon haben übernommen:
der Staat 43∙0% die Provinzen 28∙2% die Gemeinden 27∙5% Private 1∙3%
Die 170 konzessionierten Linien verteilen sich auf die verschiedenen Spurweiten, wie folgt:
Die Regel bildet die Schmalspur von 1 m. Für eine gewisse Anzahl von Linien, die an das holländische Nebenbahnnetz anschließen sollten, wurde die Spurweite von 1∙067 m gewählt, und für einige verhältnismäßig kurze, dem schweren Güterverkehr dienende Linien die Vollspur.
Auf einzelnen Linien befinden sich Abschnitte mit vier Gleisen, um die große und gleichzeitig die kleine Spurweite benützen zu können. Dieses System findet Anwendung, wenn in einer ziemlich kleinen Entfernung vom Bahnhof, der den Anschluß an das Hauptbahnnetz vermittelt, an der Kleinbahnlinie industrielle Betriebe, Steinbrüche u.s.w. liegen, von denen bedeutende Massen von Gütern verfrachtet werden. So vermeidet man das Umladen, indem die großen Eisenbahnwagen bis zu diesen Industriestätten geführt werden können. In dieser Art wurden auf eine Länge von 52∙6 km Schienenwege mit vier Gleisen angelegt. Die großen Güterwagen werden von den Lokomotiven der Kleinbahn gezogen, wobei ein mit den beiden verschiedenen Kupplungsvorrichtungen ausgerüsteter Zwischenwagen eingestellt wird.
Durchschnittliche Kosten der Nebenbahnen. Anfangs dachte man daran, die Nebenbahnen hauptsächlich auf den vorhandenen Wegen anzulegen, und in der ersten Zeit ihres Bestehens hat die Société nationale aus Sparsamkeitsrücksichten bei der Anlage von Bahnen auch streng dieses System befolgt. Zurzeit werden wegen der Unzukömmlichkeiten bei Benutzung der Wege die Neben- und Kleinbahnen nicht mehr auf diesen angelegt, es sei denn, daß sie eine genügende Breite haben und ein Längenprofil mit mäßigem Gefälle, man ist vielmehr dazu gekommen, für den Hauptteil der Nebenbahnen einen besonderen Bahnkörper herzustellen. Das heute in Betrieb befindliche Nebenbahnnetz ergibt folgende Einteilung:
Bahnlinien auf nicht verbreiterten Straßen 1908 km Bahnlinien auf verbreiterten Straßen 438 km Bahnlinien auf eigenem Bahnkörper 1305 km im ganzen 3651 km
Diese Änderung der anfangs befolgten Praxis ist eine der Ursachen für die Erhöhung der Anlagekosten.
Im Jahre 1890 kostete 1 km Nebenbahn (für Dampfbetrieb) einschließlich Betriebsmittel
durchschnittlich 43.027 Fr. 1910 53.948 Fr.
Bei den Linien mit elektrischem Betrieb kostete das km im Durchschnitt:
1900 135.096 Fr. 1910 146.276 Fr.
Die Tarife der Nebenbahnen sind Gegenstand besonderer Studien gewesen; sie weichen naturgemäß je nach den besonderen Verhältnissen voneinander ab. Wenn man von den Linien mit sehr starkem Verkehr (auf denen meistens der Zonentarif eingeführt ist) absieht, stellen sich die Fahrpreise für den Personenverkehr wie folgt:
I. Klasse 7 Cts. für 1 km II. Klasse 5 Cts. für 1 km
Der Preis der Rückfahrkarten ist um 20% geringer als der doppelte Preis der einfachen Karten. Daneben bestehen Schüler- und Arbeiterkarten zu sehr ermäßigten Preisen, ferner Zeitkarten. Auch gewährt die Gesellschaft unter gewissen Bedingungen 50% Nachlaß bei Gesellschaftsreisen.
Der Gütertarif setzt sich zusammen aus zwei Sätzen: einer festen Abfertigungsgebühr (50 Cts. für die Tonne im allgemeinen) und einem nach der kilometrischen Entfernung berechneten Streckensatz (dieser schwankt zwischen 0∙13 und 0∙04 Cts.).
Seit den ersten Tagen ihres Bestehens hatte die Société nationale die wichtige Frage des Betriebs ihrer Linien zu entscheiden. Eingehend wurde die Frage geprüft, ob sie den Betrieb selbst führen oder ihn Dritten unter ihrer Aufsicht anvertrauen sollte.
Die Société nationale hat sich entschlossen, den Betrieb im allgemeinen nicht selbst zu führen. Er ist fast für alle Linien an Privatunternehmungen übertragen, sei es durch öffentliche Ausschreibung, sei es durch freihändigen Pachtvertrag. (Nur drei Linien betreibt die Société nationale aus besonderen Gründen auf gewisse Zeit selbst.)
In mehreren Fällen hat sie nicht gezögert, von der öffentlichen Ausschreibung Abstand zu nehmen und sich direkt wegen des Betriebes neuer Linien mit bestehenden Gesellschaften in Verbindung zu setzen, die ihren Befähigungsnachweis schon erbracht hatten und einen guten Betrieb gewährleisteten.
Für die Betriebsführung sind genaue Vorschriften festgestellt.
Die Grundzüge der gegenwärtig bestehenden Verpachtungsverträge sind folgende:
1. Dauer des Vertrages. 30 Jahre, mit Kündigungsrecht nach dem 15. Jahre.
2. Betriebsmittel. Die Société nationale liefert fast allgemein die Betriebsmittel; sie vermehrt sich nach Maßgabe des nachgewiesenen Verkehrsbedürfnisses.
3. Sicherheitsleistung. Für die gewissenhafte Erfüllung der zahlreichen und wichtigen Verpflichtungen, die sich aus dem Unternehmen ergeben, namentlich was die Unterhaltung, die Ausbesserung und Erneuerung des Bahnkörpers nebst Zubehör, der Betriebsmittel u.s.w. betrifft, verlangt die Société nationale die Hinterlegung von Sicherheiten. Der Betriebsunternehmer hat ferner die Gebäude und Betriebsmittel im Namen und zu gunsten der Société nationale gegen Feuersgefahr zu versichern.
4. Zahl der Züge. Ihre Mindestzahl wird im Vertrag bestimmt.
5. Tarife. Diese werden durch das Bedingnisheft festgesetzt. Die Société nationale kann sie aber mit Genehmigung der Regierung abändern.
6. Die Vergütung für den Betriebsunternehmer beruht auf einer Teilung der Roheinnahmen.
Die Société nationale wendet, wenigstens im allgemeinen, nur zwei Vertragsarten an:
a) der Betriebsunternehmer erhält einen Teil der Roheinnahmen oder
b) eine feste Vergütung zuzüglich der Hälfte des Überschusses.
Die Fragen, wo Bahnhöfe und Haltestellen errichtet oder wo Änderungen in dieser Beziehung vorgenommen werden sollen, hängen ausschließlich von der Entscheidung der Société nationale ab. Sie entscheidet auch über die Genehmigung von Gleisanschlüssen für Private u.s.w.
Allmählich haben sich unter Förderung der Société nationale Vereinigungen zur Betriebsführung gebildet.
Im Jahre 1910 haben 37 Gesellschaften die 138 Linien der Société nationale betrieben, und unter diesen Gesellschaften gibt es einige, die bis zu 11 Linien in Pacht haben. Besonders hervorgehoben zu werden verdienen die Sociétés intercommunales.
Die Gemeinden, die das Kapital für eine Linie zeichnen, vereinigen sich zur Gründung einer Betriebsgesellschaft. Im Jahre 1889 wurde eine solche Vereinigung für die Pachtung der Nebenbahn von Thielt nach Hooglede gegründet und erhielt von der Société nationale die Genehmigung. Etwas später wurde eine zweite interkommunale Gesellschaft gegründet, die sich diesmal im Wettbewerb mit Privatpersonen um die Linien des »Centre« bewarb.
In solchen Fällen sind die Gemeinden gleichzeitig Eigentümer und Pächter und doppelt an der Vermehrung der Einnahmen sowie an der guten Unterhaltung des Bahnkörpers und der Betriebsmittel interessiert. Da anderseits diese Gemeinden bei ihrem Unternehmen lediglich von Rücksichten auf das allgemeine Wohl geleitet werden, so haben sie, wie man begreift, von dem Augenblick an, wo die Betriebskosten gedeckt sind, keine andere Sorge, als den Verkehr zu verbessern.
Die Frage, ob die Gemeinden berechtigt sind, sich zu solchen Unternehmungen zu vereinigen, wurde durch das Gesetz vom 1. Juli 1899, das aus einer Anregung des Parlaments hervorging, gelöst. Dieses Gesetz ermächtigt ausdrücklich die Gemeinden, die Aktionäre einer Nebenbahn sind, gegebenenfalls gemeinsam mit der Provinz oder Privatpersonen zur Übernahme des Betriebs einer Nebenbahn eine Vereinigung zu bilden. Seitdem ist das System bei einer ziemlich großen Zahl von neuen Linien angewandt worden.
In 25 Jahren sind 3790 km Neben- und Kleinbahnen gebaut und dem Betrieb übergeben worden, die sich in die entferntesten Winkel des Landes erstrecken. Tausende von Kilometern sind noch weiter konzessioniert oder befinden sich im Stadium der Vorarbeiten. Gegenwärtig werden durchschnittlich etwa 250 km im Jahre neu gebaut und nichts kündigt eine Abnahme dieser bemerkenswerten Entwicklung an.
Literatur: Sonnenschein, Die Organisation des belgischen Nebenbahnwesens. Archiv f. Eisenbahnwesen. 1886, S. 748 ff. – C. de Burlet, Les chemins de fer vicinaux en Belgique. 2. Aufl. 1908. Deutsche Übersetzung dieser Schrift: Ztschr. für Kleinbahnen. 1909, S. 309 ff. – Kayser, Die belgischen Kleinbahnen. Berlin 1911.
de Burlet.
http://www.zeno.org/Roell-1912. 1912–1923.